Als wegen Covid-19 am 16. März 2020 in Österreich die Schulen, Ämter, Büros und Geschäfte geschlossen blieben, wurden mit einem Schlag die Tagesgewohnheiten der Menschen ausgehebelt.
Der Rhythmus, den der Alltag vorgegeben hatte – Aufstehen, Duschen, Anziehen, Frühstücken, Zähneputzen, Haus verlassen, Coffee to go, mit Bus, Bahn, Straßenbahn, Fahrrad, Auto zum Büro, zur Uni, zur Schule, Austausch mit Kolleginnen, Kollegen, Konferenz, Tratsch, Kaffeepause, Abgabetermine, Fristen, etc. – war plötzlich ad absurdum geführt.
Alle im Kalender eingetragenen Termine mussten neu überdacht, verschoben oder abgesagt werden.
Der Schulunterricht fand, wenn überhaupt, als Homeschooling über das Internet statt.
Die Erwachsenen arbeiteten von einem Tag auf den anderen im Homeoffice oder waren als sogenannte Systemerhalter ein besonders angesehener, aber auch dem Virus besonders ausgesetzter Teil der Gesellschaft.
Der Verkehr stand praktisch still.
Rituale als Interaktion mit der Umwelt
Die Zeit des Lockdown während der Corona Pandemie bot Familien die Gelegenheit, (wieder) (einmal) miteinander zu sprechen, zu kochen, gemeinsam zu essen, gemeinsam einen Spaziergang zu machen.
Gemeinsame Mahlzeiten sind mehr als bloße Nahrungsaufnahme. Sie stärken Zusammengehörigkeitsgefühl, fördern das Gespräch miteinander, und den Austausch von Gedanken und Ideen und wirken entlastend in sorgenvollen Zeiten.
Gemeinsame Mahlzeiten sind eine soziale Situation, in der Verhaltensnormen und soziale Kompetenzen eingeübt werden können.
Die Gewohnheiten des Alltags vor Corona wurden im besten Fall durch eine Art neuer Alltagsrituale abgelöst, die eine stabilisierende und beruhigende Funktion haben konnten.
Raum, Zeit, Welt
Ritualisierungen verankern Menschen in ihrem Leben in Raum und Zeit, in Gesellschaft und Kosmos. In ihrer extremsten Form als Zwangsrituale – denken wir z.B. an Sheldon Cooper in Big Bang Theory – dienen sie ganz besonders der Beruhigung und persönlichen Sicherheit.
Alltagsrituale ordnen und strukturieren unsere Zeit. Sie verorten uns in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie helfen uns, den Überblick über unser Leben zu behalten und im „Flow“ zu bleiben. Sie verbinden uns zugleich mit der Gesellschaft und der Welt und stellen sicher, dass wir ein Gefühl dafür entwickeln, wo wir unseren Platz in unserem Leben haben. Ihre Identität stiftende Funktion hilft uns zu erkennen, was wir erreicht haben und was unsere weiteren Ziele sein können.
Die alltäglichen Rituale unterstützen die Gestaltung von Übergängen zwischen morgendlichem Verlassen des Hauses und dem Ankommen in Büro, Universität, Schule, wo wir uns auf die kommenden Arbeitsstunden einstellen, und nach der Arbeit, am Endes des Arbeitstages, die Umstellung auf die Freizeit.
Rituale als Ausdruck der Selbstreflexion und der Vergesellschaftung
Rituale spielen in sozialen Beziehungen, ob im Beruf, in der Partnerschaft oder Familie eine wichtige Rolle. Bindung und Gemeinsamkeit werden gefördert und gefestigt. Rituale sind bedeutsam für Kommunikation und Vertrauen. Sie können Struktur, Zusammenhalt und Nähe in Gruppen unterstützen.
Geregelte Kommunikationsabläufe wie Begrüßungs- und Abschiedsrituale als kurze, intensive, prüfende und kontrollierende Momente der Begegnung positionieren die Person und dienen der gegenseitigen Klarstellung. Struktur und Ordnung fließen in diese sekundenkurze Sequenz des gemeinsamen Rituals mit ein. Händedruck oder Umarmung am Anfang und am Ende einer zwischenmenschlichen Begegnung sind die wichtigsten ritualisierten Markierungen zum Überprüfen der eigenen Sicherheit. Das Gefühl der Zugehörigkeit und der Orientierung wird dadurch erneuert und gefestigt. Struktur und Bedeutung der Beziehung wieder bestärkt.
Die wegen Covid-19 empfohlene Vermeidung von Ritualen und ihre Folgen
Wenn all das wegen Ansteckungsgefahr wie in den letzten Wochen nicht stattfinden soll, wenn die gewohnten Rituale nicht mehr gelebt werden können, weil sie sich gegen die Gesundheit und das physische Wohlergehen der einzelnen Person richten, kann es zu Destabilisierung in Bindungen, zu Störungen der sozialen Struktur und zu Zweifeln an der Bedeutung der bisher gelebten sozialen Beziehungen kommen. Harmonie und Intimität in Paarbeziehungen werden nachhaltig gestört, Partner brechen aus, um neue, vermeintlich bessere Wege zu gehen. Familienmitglieder lernen neue, ungewohnte und irritierende Persönlichkeitsmerkmale der anderen kennen und schmieden Pläne, um aus der verstörenden Umgebung auszubrechen.
Was dagegen helfen kann, sind Zuversicht, Blick auf die gemeinsame Vergangenheit, Vertrauen in die Zukunft und viel Geduld. Versuchen Sie, Abstand zu gewinnen, den Standpunkt zu verändern, um einen neuen Blick auf die Problematik zu gewinnen.
Psychotherapie als ritualisierte Form der Begegnung
Psychotherapie als ritualisierte Form der Begegnung kann dabei unterstützen, sich neu zu verankern und zu stabilisieren, und dabei die heilsame Bedeutung von alten und neu geschaffenen Ritualen in schwierigen Zeiten zu erfahren.